Die Ideologisierung des Erinnerns

Der Diskurs über die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv gewandelt. Spätestens seit der Wiedervereinigung und dem Wegfall der innerdeutschen Grenze als Symbol der deutschen Niederlage ist man in Deutschland wieder wer. Dem Fahnentaumel nach dem Mauerfall folgten die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen sowie die Mordanschläge von Mölln und Solingen. Vereint im Hass auf das vermeintlich “Fremde” fand sich die deutsche Volksgemeinschaft wieder zusammen. Um ihr Ansehen in der Weltgemeinschaft bemüht, versuchte ein Teil der Deutschen mit Lichterketten bewaffnet zu beweisen, „[…] dass nicht alle Deutschen Ausländer anzünden“1.

In den frühen 2000er Jahren gewann das öffentliche Gedenken an den Nationalsozialismus zunehmend an Bedeutung. Spätestens mit der Errichtung des “Denkmals für die ermordeten Juden Europas” in Berlin (2005) sollte der Welt ein geläutertes Deutschland präsentiert werden. In dieser kollektiven Selbsttherapie glaubte die deutsche Gesellschaft, ihre Schuld erkannt zu haben und machte dieses Schuldeingeständnis zur Tugend. Mit einer substanziellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatte diese öffentliche Zurschaustellung jedoch nichts zu tun. Vielmehr ging es der deutschen Gesellschaft um eine Täter-Opfer-Umkehr. Deutlich wurde dies etwa in den Worten der damaligen Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen2, Erika Steinbach, die im Jahr 2000 erklärte: „Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und Vertriebene miteinander. Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein“3 .

Diese absurde Gleichsetzung sprach vielen Deutschen aus der Seele, wie sich am Beispiel der preisgekrönten Filmreihe “Unsere Mütter, unsere Väter” (2013) verdeutlicht. Hier werden die fünf deutschen Protagonisten letztlich als unpolitische Opfer des Nationalsozialismus inszeniert. In dieser Märchenerzählung dürfen die Deutschen endlich auch mal Opfer sein, denn mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus hatten unsere Groß- und Urgroßeltern ganz sicher nichts zu tun. Diese selektive Darstellung der Deutschen als Opfer, die meist sonst nur klassischen Neonazis bei Trauermärschen vorbehalten war, ist wieder im kollektiven deutschen Gedächtnis verankert.

Vom “Schuldkult” und Täterrehabilitation

Die Strategie der Deutschen, die Erinnerung an die Shoah umzudeuten, ist also nicht neu. Erinnert sei an dieser Stelle an Aussagen wie „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte“4. Und weder neu noch überraschend ist das dahinterliegende Motiv: Für jene Rechte, die an die Reinheit der Nation glauben, ist die Anerkennung deutscher Schuld ein identitätszersetzendes Moment. Denn diese Anerkennung widerspricht der Erzählung nationaler Größe sowie der antisemitisch motivierten Relativierung oder Leugnung des Holocausts. Auffällig ist dabei, dass offene Holocaust-Leugnung seltener wird – verbreiteter ist nun die Leugnung der Singularität der Shoah.
Indem die Bombardierung Dresdens oder die Vertreibung der Deutschen als gleichrangige Verbrechen dargestellt werden, wird eine Täter-Opfer-Umkehr vollzogen. Nicht mehr die Opfer des Nationalsozialismus stehen im Zentrum, sondern die vermeintlichen Opfer einer angeblich überzogenen Erinnerungskultur. Die Vorstellung, Deutschland sei eine “Schuldkolonie”, in der historische Verantwortung als Unterdrückungsinstrument dient, hat sich längst aus dem Neonazi-Umfeld in bürgerliche Kreise vorgearbeitet.​​​​​​
Volker Weiß analysiert diesen Ansatz als „rechte Kulturkritik“, die sich gegen die als „aufgezwungen“ empfundene Erinnerungspolitik richtet.5 Der neurechte Verleger Götz Kubitschek, ein enger Vertrauter Höckes, betrachtet die „Geschichtspolitik“ als ein entscheidendes Schlachtfeld, auf dem „unsere Nation an den Abgrund geführt“ worden sei. Kubitscheks Antaios Verlag fördert  gezielt das Narrativ eines vermeintlichen „Schuldkults“, das eine kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als fremdbestimmt und schädlich für das nationale Selbstverständnis darstellt.6 Diese Täter-Opfer-Umkehr dient dabei nicht nur der Entlastung der deutschen Geschichte, sondern bereitet den ideologischen Nährboden für eine Zukunft, in der ein “Nie wieder” die deutsche „Opferschaft“ meint.
Auch an dieser Stelle ein konkretes Beispiel: Im Mai 2020 forderte die AfD im Bundestag die Errichtung einer spezieSonntag12IstBadetag44llen Gedenkstätte für „deutsche Opfer des Zweiten Weltkrieges“. In ihrem Antrag kritisierte sie eine vermeintlich einseitige „Befreiungsrhetorik“ bei offiziellen Gedenkveranstaltungen und argumentierte, das Leid der deutschen Bevölkerung am Kriegsende werde nicht ausreichend gewürdigt.7 Diese Forderung ignoriert jedoch, dass es bereits zahlreiche Denkmäler für deutsche Kriegsopfer gibt, darunter die 1993 eingeweihte  “Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ in der Neuen Wache in Berlin. Offenbar scheint deren (durchaus problematische) universelle Ausrichtung, aller Opfer beider Weltkriege zu gedenken, nicht auszureichen, weshalb nun explizit eine eigene Stätte für deutsche Opfer gefordert wird – ein Versuch, die Erinnerungskultur auf das Niveau der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückzusetzen, als deutsche Verluste im Mittelpunkt standen.

Es ist jedoch nicht nur die AfD die dem “deutschen Volk” endlich den Wunsch nach einem Schlusstrich erfüllen will. Auch in Teilen der Linken findet eine Verschiebung statt, die auf den ersten Blick progressiv wirkt, in ihrer Konsequenz aber die Erinnerung massiv beschädigt. Im Rahmen postkolonialer Debatten wird die Shoah zunehmend als eines von vielen kolonialen Verbrechen betrachtet, eingebettet in eine lange Geschichte europäischer Gewalt. Dieser Ansatz beansprucht zwar, kritisch zu sein, läuft in der Praxis aber auf die Relativierung von NS-Verbrechen hinaus. Wenn der Holocaust nicht mehr als einzigartiges Ereignis verstanden wird, sondern als bloße Episode imperialer Herrschaft, verschwindet er aus dem kollektiven Gedächtnis und damit auch die Verantwortung für das “Nie Wieder”.
Der Genozidforscher Dirk Moses behauptet, die deutsche Erinnerungskultur werde von oben auferzwungen, „Hohepriester“ würden die Befolgung des „Katcheismus der Deutschen“ überwachen und dabei andere Positionen, insbesondere die palästinensische, ausgrenzen.8 Ein besonderes und verstärktes Revival erfährt diese Diskussion seit dem 07. Oktober 2023. Auf pro-palästinensischen Demonstrationen werden Slogans wie „Free Palestine from German Guilt“ skandiert. Hier verschwimmt die Grenze zwischen antikolonialem Engagement und einer Delegitimierung der Holocaust-Erinnerung ganz deutlich. Während früher vor allem Neonazis von einem „Schuldkult“ sprachen, stimmen heute auch linke Aktivist*innen mit ein, die ein Ende der deutschen Verantwortung fordern – mit ähnlichen Argumenten.
Egal ob von rechts oder von links, die Wirkung bleibt dieselbe: Die Lockerung der Aufgabe des Erinnerns. Die einen wollen die Shoah vergessen, weil sie die deutsche Vergangenheit glorifizieren. Die anderen wollen die Shoah relativieren, weil sie sie als Hindernis für ihren israelbezogenen Antisemitismus betrachten. Wer die Singularität der Shoah leugnet, arbeitet letztlich an ihrer Tilgung. Das darf nicht unwidersprochen bleiben!
Eine Linke, die Auschwitz nicht ins Zentrum ihrer Geschichtsbetrachtung stellt, hat ihre politische Legitimität verloren. Erinnerung darf nicht zu einer akademischen Übung werden, die je nach Perspektive neu gedeutet wird. Sie muss eine Haltung bleiben – eine, die sich konsequent gegen jede Form der Relativierung und Geschichtsverzerrung stellt.

 

Fußnoten:

1     Gutte, Rolf; Huisken Freerk (2007): Alles bewältigt nichts begriffen. S.9 [https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Gutte_Huisken_Alles_Bewaeltigt_nichts_begriffen.pdf]; weiterführend hierzu: [https://www.akweb.de/ausgaben/701/anti-afd-deutschland-im-herbst-1992-lichterketten-gegen-rechts/].

2      Als Folge des Nationalsozialismus wurden nach Kriegsende Deutsche aus den ehemaligen besetzen Ostgebieten in Polen und der damaligen Tschechoslowakei vertrieben. Die deutsche Minderheiten waren Teil des Germanisierungsplanes des Ostens und häufig bereits seit 1933 Unterstützer*innen des NS-Regimes. Diese Fakten spielen bei der “Eingemeindung der Deutschen auf der Seite der Opfer des Faschismus” häufig keine Rolle. (vgl. Wiegel, Gerd (2021): Auf die Opferseite wechseln. [https://www.akweb.de/gesellschaft/auf-die-opferseite-wechseln/]

3     Steinbach Erika zit. n. Salzborn (2020): Kollektive Unschuld: Die Abwehr der Shoah im Deutschen Erinnern.  S. 90.

4      Wortlaut der umstrittenen Passage der Rede von Alexander Gauland. Beim Kongress der Jungen Alternative am 2. Juni 2018 [https://afdbundestag.de/wortlaut-der-umstrittenen-passage-der-rede-von-alexander-gauland/].

5      Weiß, Volker (2021): „Schuldkult“ und „Schuldkolonie“ Tradition und Ziele des aktuellen Geschichtsrevisionismus. [https://www.stiftung-gedenkstaetten.de/reflexionen/reflexionen-2021/schuldkult–und-schuldkolonie].

6     “Meuthen, Parteitag, Höcke“ in: Sezession im Netz v. 1. Dezember, 2020 [https://sezession.de/63663/meuthen-parteitag-hoecke].

7      Der Antrag “Der Trauer um die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges mit einer Gedenkstätte Ausdruck verleihen” (2020) ist nachzulesen unter [https://dip.bundestag.de/drucksache/der-trauer-um-die-deutschen-opfer-des-zweiten-weltkrieges-mit/241012].

8      Moses, Dirk (2021): Der Katechismus der Deutschen. [https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/].



Für einen universalistischen Feminismus

Hedwig Dohm, Feministin der ersten Frauenbewegung, schrieb schon im 19. Jahrhundert: „Glaube nicht, es muss so sein, weil es so ist und immer so war“. Nach dieser Prämisse haben Feminist*innen seitdem erfolgreich gehandelt. Die feministische Bewegung und ihre Kämpfe sind wirksam darin, nichts für unveränderbar, nichts für ewig, nichts für ein Naturgesetz hinzunehmen. Der Feminismus ist wirksam darin, Ideologien und deren Auswirkungen, die uns das Ewige und Nicht-Veränderbare erst glauben lassen, zu bekämpfen.
Konkret zeigt sich das am Erfolg jahrzehntelanger feministischer Kämpfe:

Die Abschaffung des Paragraf 219a (zum Informationsverbot zu Schwangerschaftsabbrüchen) und damit der Erfolg der feministischen Bewegung, die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen niemals hinzunehmen. Die kurdisch-feministische Bewegung in Rojava kämpft sowohl gegen den IS und die Angriffe der Türkei als auch gegen Patriarchat und Kapitalismus. Die Bewegung kann uns hoffnungsvoll im Bestreben bestärken, die Herrschaftsverhältnisse zu überwinden. Auch das von Feminist*innen erkämpfte Selbstbestimmungsgesetz ist ein wichtiger Schritt im Kampf um die Anerkennung geschlechtlicher Selbstbestimmung.
In Indien streikte landesweit das Krankenhauspersonal, nachdem eine Ärztin im vergangenen Jahr im Krankenhaus vergewaltigt und ermordet wurde. Die Wirksamkeit des Feminismus äußert sich außerdem in Polen, wo eine feministische Bewegung Schwangerschaftsabbrüche trotz staatlicher Repression versucht, möglich zu machen. An all diesen Bespielen zeigt sich, dass feministische Kämpfe uns immer wieder hoffen lassen: Es könnte alles ganz anders sein.

Ob unter Javier Milei in Argentinien, Trump in den USA oder Orban in Ungarn: Für feministische Kämpfe ist im letzten Jahr auch deutlich geworden, dass es die Rechte und die Körper von Frauen, Lesben, inter-, nicht-binären, trans und agender Personen sind, die ein wesentliches Kampffeld (extrem) rechter Politik darstellen. Dabei treten Misogynie und Queerfeindlichkeit gemeinsam zu Tage. In der vor allem von extrem rechten Akteuren verbreiteten Erzählung des Transhumanismus verschränken sich Queer- und Transfeindlichkeit außerdem mit antimodernen und antisemitischen Motiven. Die Verschwörungserzählung des Transhumanismus enthält die Vorstellung, dass es im Sinne einer globalen Elite sei, mittels moderner Technologie die Menschheit auszulöschen.
An den Bildern des Aufmarsches hunderter Neonazis bei CSD-Paraden im letzten Jahr lässt sich erkennen, wie mobilisierungsfähig die rechte Szene auch in Sachsen ist, wenn es gegen queere Menschen geht.

Von Dohm sollten wir deshalb ebenso lernen: Ein feministischer Kampf sollte sich auch anderen menschenfeindlichen Ideologien widmen und diese als miteinander verwoben begreifen. Dohm wies bereits auf den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Sexismus hin. Sexismus, Queer- und Transfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, der Hass auf Menschen, die behindert, chronisch krank, obdachlos, arm oder schwach sind – diese Ideologien sind miteinander verschränkt.

Im vergangenen Jahr wurde allerdings deutlich, wie selbst in feministischen Kreisen Misogynie verwoben in antisemitischen Ideologien, auf erschreckende Weise verbreitet wurde: Die brutale sexualisierte Gewalt im Rahmen des islamistischen Überfalls der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde geleugnet, verharmlost oder gar als angeblich legitimer Widerstand gefeiert. Gleichzeitig halten wir die in Teilen der Linken vollzogene Idealisierung der rechten Netanjahu-Regierung für fatal. Eine emanzipatorische Linke darf das unfassbare Leid der Palästinenser*innen nicht verharmlosen oder rassistische Narrative sowie rassistische Polizeigewalt verteidigen. Der Kampf gegen Antisemitismus und Misogynie muss mit dem Kampf gegen Rassismus einhergehen.

Hedwig Dohms Vorgabe sollte sich auch eine transfeindlich-feministische Bewegung vorhalten. Trans Frauen leiden unter misogyner Gewalt und unter sexistischen Erzählungen, die auch von manchen Feministinnen befeuert werden. Wenn mit Natur und Biologie deterministisch um sich geworfen wird, wenn sich an vermeintliche Naturgesetze geklammert wird, wenn Identität zu einer starren Notwendigkeit wird, die sich ausschließlich an Genitalien und Gebärfähigkeit orientiert, sollte eine materialistisch-queerfeministische Bewegung deutlich widersprechen. Eine feministische Bewegung, die sich einem biologistisch deterministischen Weltbild bedient und patriarchale Herrschaftsdynamiken personifiziert, richtet sich nicht gegen eine patriarchale Herrschaft oder die Zwänge, die sich aus dieser ergeben, sondern führt wieder in diese zurück. Natur und Gesellschaft müssen von Feminist*innen immer als geworden, als gewachsen und im stetigen Wandel verstanden werden.

Deshalb sollten wir gegen das, was vermeintlich einfach schon immer so ist, stets aufbegehren. Diesen 8. März rufen wir dazu auf, zu kämpfen für das Beharren auf dem Wandel, zu kämpfen für das Anders- und Schwachsein, zu kämpfen gegen die patriarchal-kapitalistische Misere und ihre Ideologien.

 

Für den Sieg der iranischen Revolution, Jin Jiyan Azadi!

Zum feministischen und Frauenkampftag wollen wir in diesem Jahr ein Zeichen der Solidarität mit dem anhaltenden Kampf der Aktivist*innen in Iran setzen. Eine solidarische Praktik im Sinne eines feministischen Universalismus bedeutet, die Verflechtungen zwischen feministischen revolutionären Bewegungen zu erkennen und sich darüber mit diesen Bewegungen in Beziehung zu setzen.

Die Proteste in Iran wurden von der iranischen Regierung mit brutaler Gewalt beantwortet. Sie begannen in Reaktion auf den Mord an Jîna Mahsa Amini, einer 22-jährigen iranischen Kurdin, die von der islamischen „Sittenpolizei“ getötet wurde. Viele Frauen und Aktivist*innen wurden verhaftet, inhaftiert, gefoltert und ermordet. Die Proteste sind ein Kampf für die Befreiung der Frauen von einem patriarchalen Zwangsregime, das auf ihre Körper, auf ihre Wünsche, auf ihr Leben zugreift. Vom obligatorischen Kopftuch bis hin zum eingeschränkten Zugang zu Bildung und zu Beschäftigungsmöglichkeiten werden Frauen systematisch unterdrückt, zum Schweigen gebracht und müssen ein benachteiligtes Leben führen. Die in Iran patriarchal-religiös strukturierte Familie ist für die Ideologie der islamischen Republik zentral. Die familiäre Gemeinschaft dient als Gegenbild zum dämonisierten westlichen Kapitalismus und soll den Individuen trotz ökonomischer Unsicherheit Halt und identitäre Orientierung bieten.

Die Proteste in Iran verbinden soziale Kämpfe intersektional miteinander und streben so einen Systemwandel an: Sie verbinden den Kampf gegen patriarchale Unterdrückung mit dem Kampf für politische Freiheit und Aufbegehren gegen religiöse Herrschaft mit der Ablehnung kapitalistischer Ausbeutung. Das Kopftuch ist dabei zum Symbol dieser Proteste geworden. Die iranische Feministin Masih Alinejad, die seit 2009 in den USA im Exil lebt und immer wieder den Auftragsmördern des iranischen Regimes entkommen muss, nennt das Kopftuch „die wichtigste Säule der religiösen Diktatur“. Das Ablegen, Abwerfen oder Verbrennen des Kopftuchs ist zum Symbol für weibliche Selbstbestimmung, ein Ausdruck des Ausrufes „My Body, My Choice“ geworden. Die Proteste sind außerdem ein Kampf gegen das kapitalistische Patriarchat: Streiks und Arbeitskämpfe gegen kapitalistische Produktionsverhältnisse sind ein zentrales Element der Proteste. Die Arbeiter*innenschaft ist immanenter Bestandteil der Protestbewegung. Der iranische Protest, der es schafft, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen zu bekämpfen und diese im Kampf miteinander zu verbinden, zeigt, dass der Kampf für weibliche Selbstbestimmung intersektional geführt werden und es ihm dabei um die grundsätzliche Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der kapitalistischen Moderne gehen muss. Dafür müssen die gegenseitige Durchdringung und Überlagerung von Ideologien herausgearbeitet werden und für einen Kampf gegen diese Ideologien und Herrschaftsformen fruchtbar gemacht werden.

Aus dem intersektionalen iranischen Kampf sollten wir daher lernen: Gegen internationale patriarchale Unterdrückung und Unterwerfung zu kämpfen, heißt die Rolle des religiösen Fundamentalismus und dessen Einbettung in kapitalistische Produktionsverhältnisse zu erkennen. Feministinnen in Deutschland sollten von den Protesten in Iran folglich lernen, religiöse Identitätspolitiken nicht zu unterstützen, das Kopftuch nicht zum anti-westlichen Widerstandssymbol zu verklären und vor allem nicht die patriarchale Unterdrückung zu verkennen, die vom islamischen Fundamentalismus auch in deutschen Moscheen ausgeht. Das heißt: Weil wir der Ansicht sind, dass Religion und die ökonomischen Rahmenbedingungen der Gesellschaft mit dem Patriarchat verwoben sind, sollte ein intersektionaler feministischer Kampf gleichzeitig ein Kampf für eine säkulare Gesellschaft und für die Überwindung kapitalistischer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sein.

Doch die Spezifik der iranischen Kämpfe darf nicht unbeachtet bleiben und sie dürfen nicht umstandslos auf die Kämpfe in Deutschland umgemünzt werden. Dass politische Debatten um das Kopftuch in Deutschland von Rassismus und Sexismus geprägt sind, sollte stets herausgearbeitet werden: Warum muslimisch geprägte Symbole und religiöse Unterdrückung kritisiert werden, sollte stets hinterfragt werden.

Als Feminist*innen müssen wir uns mit internationalen emanzipatorischen Kämpfen solidarisch zeigen und uns mit diesen Kämpfen in Bezug setzen. Nicht nur heute, sondern alle Tage. Für den Sieg der iranischen Revolution, Jin Jiyan Azadi!

Redebeitrag 15.05.21 // Kundgebung “Gegen jeden Antisemitismus – Solidarität mit Israel”

Hey, wir sind von Utopie und Praxis Leipzig und wollen uns heute im nachfolgenden Redebeitrag etwas wegbewegen von den genauen Geschehnissen in Nahost hin zum Verhältnis der hiesigen Linken zu Israel.

Wenn man sich dieser Tage durch die Sozialen Medien bewegt, begegnen einem schnell die krudesten Behauptungen, Verfälschungen und Narrative, welche doch von einer geradezu erschreckenden Ignoranz zeugen, mit der antisemitische Ressentiments nett umschmückt in Infografiken verbreitet werden.

Auch in scheinbar neutral daherkommenden Posts à la “man möchte ja keine Partei ergreifen, beide Seiten sind irgendwie schwierig” sehen wir eine große Gefahr. Schon allein die Gleichstellung der Angriffe der Hamas, einer islamistischen Terrororganisation, welche antisemitische Vernichtungsphantasien propagiert, mit der israelischen Selbstverteidigung ist untragbar. Diese Dynamik konnte auch in den Kommentarspalten und Telegram-Gruppen beobachtet werden, in denen diese Kundgebung beworben wurde. Die Feststellung, dass Israel ein bürgerlicher Rechtsstaat, mit all seinen Unzulänglichkeiten ist, wird hier zu Gunsten der Legitimierung freiheitsfeindlicher Ansichten aufgegeben.
Das unverrückbare Existenz- und Selbstverteidigungsrecht Israels als jüdischer Schutzraum kommt vielen selbsternannten Linken nicht über die Lippen, ohne mit einem Whataboutism anzufangen. Dabei wird sonst immer schnell entschieden Partei ergriffen für Menschen die Diskriminierung erfahren – und das soll auch weiterhin so bleiben – die Frage, wo die Solidarität mit den Menschen bleibt, die in Israel beschossen werden, aber auch denen, die sich in Gaza der Hamas entgegenstellen und dafür um ihr Leben fürchten müssen, bleibt oftmals unbeantwortet.
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Statement & Unterzeichnung “Wir sind alle Linx”

Wir unterzeichnen und bewerben die Kampagne, weil wir trotz einiger Kritikpunkte am „Leipziger Aufruf 2021“ unsere Solidarität mit den von Repression betroffenen Antifaschist*innen zum Ausdruck bringen möchten. Wir teilen die Kritik an der haarsträubenden Unverhältnismäßigkeit, mit der Linke strafrechtlich verfolgt werden, während eine mit rechten Akteuren mehr als nur verstrickte Polizei und die Justiz bei der Verfolgung von Rechten eine, wie es im Aufruf heißt, geradezu verstörende Nachlässigkeit zeigen. Nicht überraschen dürfte, dass es uns großes Unbehagen bereitet, mit Parteien wie der DKP auf einer Unterzeichner*innenliste zu stehen. Diskutabel am Aufruf finden wir außerdem, dass mit Parolen wie „Wir sind alle Antifa“ im Zusammenspiel mit der (natürlich unterstützenswerten) Forderung nach staatlicher Förderung von zivilgesellschaftlichem Antifaschismus unterschlagen wird, dass antifaschistische Arbeit und Antifa-Gruppen sich (zum Glück) vielerorts in ihrer Kritik und ihren Aktivitäten sehr von bürgerlichen Bündnissen gegen Rechts unterscheiden. Sie tun eben mehr als „nur“ gegen Rechts zu kämpfen. Solche Formulierungen können zu einer gewissen Entpolitisierung und Verwässerung der Pluralität und vor allem der Schärfe von linker Politik führen, die wir aber als äußerst wichtig und verteidigenswert empfinden. Daher wollen wir uns in nächster Zeit als Gruppe mit dieser Frage etwas intensiver auseinandersetzen. Außerdem möchten wir kritisieren, dass der Aufruf mit dem Zitat des Schwurs von Buchenwald endet. Ohne die Notwendigkeit, rechten Akteuren mit allen notwendigen Mitteln das Handwerk zu legen und die wachsende Bedrohung durch faschistische Kräfte in irgendeiner Form kleinreden zu wollen, finden wir, dass die Verwendung des Zitats hier sehr instrumentell wirkt.

Redebeitrag 17.04.21 // Kundgebung “Solidarität mit den emanzipatorischen Kämpfen in China” (+ English Version)

Bild der Kundgebung von 左回声 Left Echo und Nika Sachsen

[For English version, please see below!]

Hi, wir sind Utopie und Praxis Leipzig und wollen uns heute in unserem Redebeitrag der ökonomischen Entwicklung Chinas hin zum kapitalistischen Staat, dem Zustand der chinesischen Arbeiter*innenklasse, ihrer globalen Bedeutung und ihren Bestrebungen, sich von ausbeuterischen, kapitalistischen Verhältnissen zu emanzipieren, beschäftigen. Wir wollen an dieser Stelle kurz erwähnen, dass wir hier keinen Rundumschlag einer Kritik am chinesischen Staat liefern können und fokussieren uns deshalb weitest möglich. Im Folgenden beschäftigen wir uns erst einmal mit der Geschichte des Landes.

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Redebeitrag 19.09.2020 // Kundgebung “Erst der Leuchtturm dann das Rittergut – Faschozentren dichtmachen!”

Nachdem wir im März diesen Jahres bei unserem Redebeitrag anlässlich des Flügetreffens auf den grassierenden Antisemitismus in der Neuen Rechten und im Besonderen bei Kubitschek selbst eingegangen sind, wollen wir dieses Mal mit einem anderen Exkurs fortsetzen.

Die “Sommerakademie”, welche hier gerade stattfindet, ist dieses Jahr in sehr unterschiedliche, ablaufende Prozesse eingebettet. So erlosch die von Kubitschek herbeigesehnte “Strahlkraft” des IB-Hauses in Halle, als es im Mai endlich endgültig geräumt wurde. Aber nicht nur in Halle, auch generell scheint die IB in Deutschland in ihren letzten Zügen zu sein. Das sieht auch Götz Kubitschek so, der als Mentor mit Sellner die IB in Deutschland maßgeblich geprägt hat – sie jetzt aber als ein, seiner Aussage nach, gescheitertes Projekt zu den Akten legen muss. [1]

Auch die Beobachtung des IfS durch den Verfassungsschutz seit April diesen Jahres war ein eventueller Einschnitt. Ob eine Einstufung als Verdachtsfall deren Arbeit wirklich erschwert, bleibt abzuwarten. Vor allem als Linke sollte sich aber nicht auf den VS verlassen werden. Weiterhin ist der sogenannte Flügel der AfD, der sich noch im März hier in Schnellroda getroffen hat, nach einer Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden zumindest offiziell aufgelöst. [2]

Nicht die ersten und einzigen Kratzer am “Götzenbild”. Bereits 2014 verließ der Mitgründer des IfS und einer der führenden Denker der Neuen Rechten, Karlheinz Weißmann, das selbsternannte Institut sowie die IfS-Zeitschrift “Sezession”. In einem Interview erklärt der nicht weniger problematische Weißmann, dass die dauernden Alleingänge Kubitscheks, seine notorische Unzuverlässigkeit, wenn es um Absprachen ging und die permanente Grenzüberschreitung Gründe für den Bruch waren. [3] Klingt nach viel, nur nicht nach der selbstverordneten Disziplin, die Kubitschek im Dokumentarfilm “Kleine Germanen” von seinen Kindern einfordert. [4]

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Hongkongs neues „Sicherheitsgesetz“

Am 30. Juni 2020 wurde das sogenannte „Sicherheitsgesetz“ ohne Diskussion einstimmig durch den Ständigen Ausschuss des Volkskongresses in Peking (China) verabschiedet. Im Namen der nationalen Sicherheit soll nun gegen vermeintlich subversive, terroristische und separatistische Aktivitäten sowie solche, die als ausländische Einmischung gelten, vorgegangen werden. Dies hat verheerende Konsequenzen. So erhalten Sicherheitsorgane des chinesischen Festlandes in Hongkong mehr Befugnisse. Außerdem wird eine Auslieferung nach China möglich, was die Protestbewegung, die sich ab Juni 2019 formierte, bereits durch das geplante Auslieferungsgesetz befürchtete. Der Mangel an inhaltlicher Transparenz hat schon jetzt zur Folge, dass Demokratie-Aktivist*innen ins Ausland flüchteten, sich die Pro-Demokratie-Partei „Demosisto“ selbst auflöste und Festnahmen aufgrund des „Sicherheitsgesetztes“ durchgeführt wurden.
Der Autonomiestatus von Hongkong wird immer weiter von der chinesischen Zentralregierung beschnitten, was zu einer Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit führt. Das Gesetz erzeugt Verunsicherung, trägt damit zur Eindämmung der Debattenkultur bei und kriminalisiert fast jeglichen Widerstand.  
Mit unserer Plakatreihe wollen wir auf die extreme Beschränkung der Freiheit aufmerksam machen und in diesem Zuge den repressiven und autoritären chinesischen Staat kritisieren und verurteilen. Freiheit ist weder westlich noch östlich, sondern universal! 

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Interview // Punkwerkxxkammer zur Selbstorganisierung von obdachlosen Menschen

Weiterführende Links zur Punkswerkxxkammer: Facebook  // Blog


Hey. Schön, dass es geklappt hat. Wollt ihr euch zu Beginn einmal kurz vorstellen?

Hallo, ja. Wir sind die Punkwerkxxkammer. Wir sind ein Verein, gegründet von betroffenen Obdachlosen im Innenstadtbereich, speziell des Hauptbahnhofs Leipzig, die sich quasi selbst organisiert haben und sich selbst aus der Misere ziehen wollen. Und dabei aber auch Anderen, also auch anderen Betroffenen mithelfen wollen. Also Hilfe zur Selbsthilfe. Das ist unser großes Ziel.

Wann habt ihr euch gegründet?

Unsere Gründung war am 21.09.2018 und e. V. sind wir jetzt seit dem 15.03.2019.

Anfangs hattet ihr ein anderes Objekt. Wie kam es, dass ihr jetzt hier seid?

Am Anfang hatten wir noch ein Haus auf dem Gelände des Hauptbahnhofs, die G3. Der Eigentümer hatte sich dann mit uns in Verbindung gesetzt und hat uns quasi das hier als Vergleichsobjekt angeboten. Also dass wir dahinten rausgehen. Das Haus sollte umgebaut werden zu einem Kindergarten – so scheiße sind wir dann ja auch nicht – und da haben wir gesagt okay, und dann haben wir von ihm das Objekt bekommen, was auch ihm gehört. Und das jetzt war der Traum. Eine Verbesserung. Nichts gegen unsere heißgeliebte G3, aber wir haben versucht, da ein paar Umbaumaßnahmen zu starten, aber da sollen mal lieber die Profis dran.

Gab es einen bestimmten Anlass für die Gründung der Punkwerkxxkammer?

Ja, wir hatten alle hier oben auf dem Gelände des Bahnhofs gewohnt, und ja, da sieht man ja, was draus geworden ist. Und wir wollten uns nicht einfach so vertreiben lassen. Und man ist als Gruppe natürlich stärker als ein Einzelner und als Verein hat man in Deutschland ja noch ein paar andere Rechte. Und so haben wir uns selbst organisiert und dann mal schauen, was wir reißen können. Immer nur auf der Stelle treten, das bringt ja auch nichts.
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Interview // Lucius Teidelbaum zu Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus

Weiterführende Links zu Lucius Teidelbaum: Literatur // Twitter


Magst du dich kurz vorstellen?

Ja, gern. Mein Name ist Lucius Teidelbaum. Ich bin freier Journalist, Buchautor und Bildungsreferent mit dem Schwerpunkt extreme Rechte. Im Jahr 2013 habe ich im Unrast-Verlag das Buch „Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus“ veröffentlicht.
Ich möchte am Anfang nochmal darauf hinweisen, dass ich nie wohnungslos gewesen bin und mir auch nicht anmaße im Namen von Wohnungslosen zu sprechen. Wenn ihr auf die Erfahrungen von Wohnungslosen zugreifen wollt, dann müsst ihr mit ihnen direkt sprechen.

Wie kam es dazu, dass du dich mit dem Thema Obdachlosigkeit und Obdachlosenhass beschäftigst?

Zum einem habe ich in einem Nebenjob immer wieder mit Wohnungslosen und Obdachlosen zu tun. Zum anderen kam das durch meine Beschäftigung mit der extremen Rechten. Mir ist aufgefallen das Wohnungslose und Obdachlose eine Opfergruppe rechter Gewalt sind. Ein Umstand, der nur wenig Aufmerksamkeit erfährt.

Gab es besondere Erlebnisse während deiner Arbeit zu diesem Thema?

Nein, aber ich musste mal als Jugendlicher in Dresden hilflos aus der Entfernung mit ansehen wie drei Jugendliche einen älteren Obdachlosen an einer Haltestelle verhöhnten und ihn mit Bierdosen bekickten. Das hat mich schon damals sehr wütend gemacht.
Außerdem habe ich später im Rahmen eines Praktikums bei einer Beratung für Opfer rechter Gewalt mal versucht einen Obdachlosen, den ich zuvor zufällig in der Bahn getroffen und der mir von einem Angriff berichtet hatte, ausfindig zu machen. Leider ohne Erfolg. Da ist mir aufgegangen, wie schwierig der Umgang mit Gewalt für Obdachlose ist. Schwierige Erreichbarkeit für Unterstützung, das Dauer-beschäftigt-sein mit dem eigenen Überleben (Pennplatz, Essen, Geld, Hygiene etc.) und die Schutzlosigkeit auf der Straße vor Übergriffen.
Daraus wurde dann die Beschäftigung mit dem Thema und schließlich das Buch.

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