Die Ideologisierung des Erinnerns

Der Diskurs über die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv gewandelt. Spätestens seit der Wiedervereinigung und dem Wegfall der innerdeutschen Grenze als Symbol der deutschen Niederlage ist man in Deutschland wieder wer. Dem Fahnentaumel nach dem Mauerfall folgten die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen sowie die Mordanschläge von Mölln und Solingen. Vereint im Hass auf das vermeintlich “Fremde” fand sich die deutsche Volksgemeinschaft wieder zusammen. Um ihr Ansehen in der Weltgemeinschaft bemüht, versuchte ein Teil der Deutschen mit Lichterketten bewaffnet zu beweisen, „[…] dass nicht alle Deutschen Ausländer anzünden“1.

In den frühen 2000er Jahren gewann das öffentliche Gedenken an den Nationalsozialismus zunehmend an Bedeutung. Spätestens mit der Errichtung des “Denkmals für die ermordeten Juden Europas” in Berlin (2005) sollte der Welt ein geläutertes Deutschland präsentiert werden. In dieser kollektiven Selbsttherapie glaubte die deutsche Gesellschaft, ihre Schuld erkannt zu haben und machte dieses Schuldeingeständnis zur Tugend. Mit einer substanziellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatte diese öffentliche Zurschaustellung jedoch nichts zu tun. Vielmehr ging es der deutschen Gesellschaft um eine Täter-Opfer-Umkehr. Deutlich wurde dies etwa in den Worten der damaligen Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen2, Erika Steinbach, die im Jahr 2000 erklärte: „Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und Vertriebene miteinander. Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein“3 .

Diese absurde Gleichsetzung sprach vielen Deutschen aus der Seele, wie sich am Beispiel der preisgekrönten Filmreihe “Unsere Mütter, unsere Väter” (2013) verdeutlicht. Hier werden die fünf deutschen Protagonisten letztlich als unpolitische Opfer des Nationalsozialismus inszeniert. In dieser Märchenerzählung dürfen die Deutschen endlich auch mal Opfer sein, denn mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus hatten unsere Groß- und Urgroßeltern ganz sicher nichts zu tun. Diese selektive Darstellung der Deutschen als Opfer, die meist sonst nur klassischen Neonazis bei Trauermärschen vorbehalten war, ist wieder im kollektiven deutschen Gedächtnis verankert.

Vom “Schuldkult” und Täterrehabilitation

Die Strategie der Deutschen, die Erinnerung an die Shoah umzudeuten, ist also nicht neu. Erinnert sei an dieser Stelle an Aussagen wie „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte“4. Und weder neu noch überraschend ist das dahinterliegende Motiv: Für jene Rechte, die an die Reinheit der Nation glauben, ist die Anerkennung deutscher Schuld ein identitätszersetzendes Moment. Denn diese Anerkennung widerspricht der Erzählung nationaler Größe sowie der antisemitisch motivierten Relativierung oder Leugnung des Holocausts. Auffällig ist dabei, dass offene Holocaust-Leugnung seltener wird – verbreiteter ist nun die Leugnung der Singularität der Shoah.
Indem die Bombardierung Dresdens oder die Vertreibung der Deutschen als gleichrangige Verbrechen dargestellt werden, wird eine Täter-Opfer-Umkehr vollzogen. Nicht mehr die Opfer des Nationalsozialismus stehen im Zentrum, sondern die vermeintlichen Opfer einer angeblich überzogenen Erinnerungskultur. Die Vorstellung, Deutschland sei eine “Schuldkolonie”, in der historische Verantwortung als Unterdrückungsinstrument dient, hat sich längst aus dem Neonazi-Umfeld in bürgerliche Kreise vorgearbeitet.​​​​​​
Volker Weiß analysiert diesen Ansatz als „rechte Kulturkritik“, die sich gegen die als „aufgezwungen“ empfundene Erinnerungspolitik richtet.5 Der neurechte Verleger Götz Kubitschek, ein enger Vertrauter Höckes, betrachtet die „Geschichtspolitik“ als ein entscheidendes Schlachtfeld, auf dem „unsere Nation an den Abgrund geführt“ worden sei. Kubitscheks Antaios Verlag fördert  gezielt das Narrativ eines vermeintlichen „Schuldkults“, das eine kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als fremdbestimmt und schädlich für das nationale Selbstverständnis darstellt.6 Diese Täter-Opfer-Umkehr dient dabei nicht nur der Entlastung der deutschen Geschichte, sondern bereitet den ideologischen Nährboden für eine Zukunft, in der ein “Nie wieder” die deutsche „Opferschaft“ meint.
Auch an dieser Stelle ein konkretes Beispiel: Im Mai 2020 forderte die AfD im Bundestag die Errichtung einer spezieSonntag12IstBadetag44llen Gedenkstätte für „deutsche Opfer des Zweiten Weltkrieges“. In ihrem Antrag kritisierte sie eine vermeintlich einseitige „Befreiungsrhetorik“ bei offiziellen Gedenkveranstaltungen und argumentierte, das Leid der deutschen Bevölkerung am Kriegsende werde nicht ausreichend gewürdigt.7 Diese Forderung ignoriert jedoch, dass es bereits zahlreiche Denkmäler für deutsche Kriegsopfer gibt, darunter die 1993 eingeweihte  “Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ in der Neuen Wache in Berlin. Offenbar scheint deren (durchaus problematische) universelle Ausrichtung, aller Opfer beider Weltkriege zu gedenken, nicht auszureichen, weshalb nun explizit eine eigene Stätte für deutsche Opfer gefordert wird – ein Versuch, die Erinnerungskultur auf das Niveau der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückzusetzen, als deutsche Verluste im Mittelpunkt standen.

Es ist jedoch nicht nur die AfD die dem “deutschen Volk” endlich den Wunsch nach einem Schlusstrich erfüllen will. Auch in Teilen der Linken findet eine Verschiebung statt, die auf den ersten Blick progressiv wirkt, in ihrer Konsequenz aber die Erinnerung massiv beschädigt. Im Rahmen postkolonialer Debatten wird die Shoah zunehmend als eines von vielen kolonialen Verbrechen betrachtet, eingebettet in eine lange Geschichte europäischer Gewalt. Dieser Ansatz beansprucht zwar, kritisch zu sein, läuft in der Praxis aber auf die Relativierung von NS-Verbrechen hinaus. Wenn der Holocaust nicht mehr als einzigartiges Ereignis verstanden wird, sondern als bloße Episode imperialer Herrschaft, verschwindet er aus dem kollektiven Gedächtnis und damit auch die Verantwortung für das “Nie Wieder”.
Der Genozidforscher Dirk Moses behauptet, die deutsche Erinnerungskultur werde von oben auferzwungen, „Hohepriester“ würden die Befolgung des „Katcheismus der Deutschen“ überwachen und dabei andere Positionen, insbesondere die palästinensische, ausgrenzen.8 Ein besonderes und verstärktes Revival erfährt diese Diskussion seit dem 07. Oktober 2023. Auf pro-palästinensischen Demonstrationen werden Slogans wie „Free Palestine from German Guilt“ skandiert. Hier verschwimmt die Grenze zwischen antikolonialem Engagement und einer Delegitimierung der Holocaust-Erinnerung ganz deutlich. Während früher vor allem Neonazis von einem „Schuldkult“ sprachen, stimmen heute auch linke Aktivist*innen mit ein, die ein Ende der deutschen Verantwortung fordern – mit ähnlichen Argumenten.
Egal ob von rechts oder von links, die Wirkung bleibt dieselbe: Die Lockerung der Aufgabe des Erinnerns. Die einen wollen die Shoah vergessen, weil sie die deutsche Vergangenheit glorifizieren. Die anderen wollen die Shoah relativieren, weil sie sie als Hindernis für ihren israelbezogenen Antisemitismus betrachten. Wer die Singularität der Shoah leugnet, arbeitet letztlich an ihrer Tilgung. Das darf nicht unwidersprochen bleiben!
Eine Linke, die Auschwitz nicht ins Zentrum ihrer Geschichtsbetrachtung stellt, hat ihre politische Legitimität verloren. Erinnerung darf nicht zu einer akademischen Übung werden, die je nach Perspektive neu gedeutet wird. Sie muss eine Haltung bleiben – eine, die sich konsequent gegen jede Form der Relativierung und Geschichtsverzerrung stellt.

 

Fußnoten:

1     Gutte, Rolf; Huisken Freerk (2007): Alles bewältigt nichts begriffen. S.9 [https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Gutte_Huisken_Alles_Bewaeltigt_nichts_begriffen.pdf]; weiterführend hierzu: [https://www.akweb.de/ausgaben/701/anti-afd-deutschland-im-herbst-1992-lichterketten-gegen-rechts/].

2      Als Folge des Nationalsozialismus wurden nach Kriegsende Deutsche aus den ehemaligen besetzen Ostgebieten in Polen und der damaligen Tschechoslowakei vertrieben. Die deutsche Minderheiten waren Teil des Germanisierungsplanes des Ostens und häufig bereits seit 1933 Unterstützer*innen des NS-Regimes. Diese Fakten spielen bei der “Eingemeindung der Deutschen auf der Seite der Opfer des Faschismus” häufig keine Rolle. (vgl. Wiegel, Gerd (2021): Auf die Opferseite wechseln. [https://www.akweb.de/gesellschaft/auf-die-opferseite-wechseln/]

3     Steinbach Erika zit. n. Salzborn (2020): Kollektive Unschuld: Die Abwehr der Shoah im Deutschen Erinnern.  S. 90.

4      Wortlaut der umstrittenen Passage der Rede von Alexander Gauland. Beim Kongress der Jungen Alternative am 2. Juni 2018 [https://afdbundestag.de/wortlaut-der-umstrittenen-passage-der-rede-von-alexander-gauland/].

5      Weiß, Volker (2021): „Schuldkult“ und „Schuldkolonie“ Tradition und Ziele des aktuellen Geschichtsrevisionismus. [https://www.stiftung-gedenkstaetten.de/reflexionen/reflexionen-2021/schuldkult–und-schuldkolonie].

6     “Meuthen, Parteitag, Höcke“ in: Sezession im Netz v. 1. Dezember, 2020 [https://sezession.de/63663/meuthen-parteitag-hoecke].

7      Der Antrag “Der Trauer um die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges mit einer Gedenkstätte Ausdruck verleihen” (2020) ist nachzulesen unter [https://dip.bundestag.de/drucksache/der-trauer-um-die-deutschen-opfer-des-zweiten-weltkrieges-mit/241012].

8      Moses, Dirk (2021): Der Katechismus der Deutschen. [https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/].